Geheimoperation "OSSAWIAKIM"

Vor 65 Jahren - 22. Oktober 1946

Die Verschleppung deutscher Raketenwissenschaftler in die Sowjetunion

Erste sowjetische RaketeWie bereits in vielen Veröffentlichungen, besonders nach der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten, berichtet wurde, fand in der sowjetisch besetzten Zone (SBZ) in den Nachkriegsjahren eine umfassende Demontage von Industrieanlagen durch die Sowjets statt. Dabei kam es zwischen den Moskau direkt unterstellten Demontageeinheiten und den Dienststellen der sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) zu einem regelrechten Konkurrenzkampf. Zahlreiche der entwendeten Anlagen und Gerätschaften besaßen nach dem Eintreffen in der Sowjetunion jedoch nur noch Schrottwert. Dieser Umstand resultierte in der Regel aus der unsachgemäßen Demontage und aus dem Mangel an qualifiziertem Bedienpersonal. Die Abbauarbeiten mussten stets unter großem Zeitdruck hauptsächlich von Arbeitern aus den umliegenden Ortschaften, sowie von Flüchtlingen ausgeführt werden. Bei Nichtbefolgung der Weisungen drohten herbe Bestrafungen. Im Hintergrund standen als Strafe immer die Deportation in eines der berüchtigten Speziallager Stalins, die zum Teil in Weiterführung bisheriger NS-Konzentrationslager betrieben wurden, und in denen unmenschliche Lebensbedingungen für die Insassen herrschten.

Um die demontierten Anlagen in der Sowjetunion funktionsfähig zu machen, und um der sowjetischen Wirtschaft und der dortigen Wissenschaft einen Schub zu geben, organisierten die Sowjets in der SBZ am 22. Oktober 1946 eine großangelegte Verschleppungsaktion, der nicht nur deutsche Wissenschaftler, Ingenieure, Meister und Techniker zum Opfer fielen, sondern ebenso deren Familien und sogar völlig Unbeteiligte. Dabei bildeten die Orte Bleicherode, Nordhausen, Sondershausen, Sömmerda und Lehesten vor 65 Jahren die Brennpunkte der Ereignisse in Thüringen, da sie unmittelbar in die Rekonstruktion und die geplante Wiederaufnahme der Produktion der deutschen Flüssigkeitsrakete, „Aggregat 4“ („V2“), einbezogen waren. Das vom sowjetischen Geheimdienst (NKWD) geleitete Unternehmen unter der Tarnbezeichnung „OSSAWAKIM“ nahm ein gigantisches Ausmaß an. Nach heutigen Schätzungen wurden allein in diesen Tagen ca. 3000 Personen als „lebendes Reparationsgut“ unfreiwillig in die Sowjetunion gebracht. Aus taktischen Gründen warteten die Sowjets die am Vortag stattfindenden Wahlen ab, damit sich die aus der Verschleppung zu erwartende Missstimmung im Volk nicht auf die Wahlergebnisse auswirken würde.

Gaststätte Waldhaus Japan

So erging es auch den deutschen Raketenfachleuten des Instituts „RABE“ in Bleicherode, denen noch eine Feier am Vorabend der Ereignisse im Bleicheröder Waldhaus „Japan“ zu schaffen machte. Zu der Feierlichkeit, die bis in die späte Nacht andauerte, hatten die Sowjets die wichtigsten deutschen Raketenfachleute eingeladen. Die Feier hatte anscheinend den alleinigen Zweck, die Deutschen betrunken zu machen, um diese dann am nächsten Morgen vollzählig in ihren Wohnungen anzutreffen. Dies wird durch Aussagen von Teilnehmern an der Feier belegt.

Herr Prof. Dr. Kurt Magnus (Abteilungsleiter für Steuerungstechnik) berichtete, daß sehr viel Wodka getrunken wurde und ein Trinkspruch der Sowjets den nächsten jagte. Offensichtlich wollte man die Deutschen bewusst betrunken machen. 

Diese Vermutung erhärtet sich, wenn man folgendes Ereignis bedenkt:: „...Bei der allgemeinen Prosterei geschah es nun, was mir mein Kollege Sulzer später voller Empörung berichtete: In dem allgemeinen Durcheinander geriet er in eine Gruppe, die sich um den General gebildet hatte. Natürlich wurde auch dort getrunken. Und bei einem Toast ergriff Sulzer versehentlich nicht sein eigenes, sondern das ganz in der Nähe auf dem Tisch abgestellte Glas des Generals. Welche Überraschung: Wasser! Unmittelbar neben dem Glas aber stand auf dem Tisch eine Original-Wodka-Flasche - gefüllt mit dem so täuschend ähnlich aussehenden ordinären Trinkwasser.“

Die Feier endete also gegen 2:30 Uhr. Geschlossen und vollzählig bestieg man wiederum die bereits wartenden Fahrzeuge und wurde nach Hause gefahren. Dabei fiel wohl einigen auf, dass ihre Häuser durch Militärposten bewacht wurden. Die Nacht war für die deutschen Teilnehmer an der Feier kurz, denn schon gegen 5:30 Uhr klopfte es an den Wohnungstüren. Den aus dem Schlaf gerissenen Personen wurde ein Befehl aus Moskau verlesen, in dem ihnen die Verlagerung der Zentralwerke in die Sowjetunion mitgeteilt wurde, was sowohl die Einrichtungen und Anlagen, als auch das Personal betraf. Die betreffenden Häuser, wie auch die gesamte Stadt, waren von sowjetischen Soldaten umstellt worden, um einerseits eine Flucht unmöglich zu machen, und andererseits die wichtigste Habe aufzuladen. Damit diese Aktion in der Öffentlichkeit einen menschlichen Anstrich wahrte, mußten die Angehörigen mitgenommen werden.

Sergej KoroljowProf. Dr. Magnus berichtete u. a. folgendes: „...Die Menschenfreundlichkeit der Russen nahm in Bleicherode an diesem 22. Oktober 1946 fast groteske Züge an. Etwa im Fall eines Ingenieurs, der bei einer Kriegerwitwe mit zwei Kindern als Untermieter eine vorläufige Bleibe gefunden hatte. Vermieterin und Kinder wurden, trotz Protestes, einfach mitgenommen. Noch Kurioseres passierte einem Diplom-Ingenieur, der Junggeselle war: Er möge doch, so bot man ihm an, irgendeine Frau aus dem Ort benennen, mit der er in Russland zusammenleben möchte; sie würde dann für ihn abgeholt werden. Er jedoch zog es vor, die erzwungene Reise allein anzutreten.“

Außerdem berichtet Magnus über einen Fall, bei dem der gesuchte Ingenieur nicht anwesend war. So wurde in Bleicherode ein Mann gleichen Namens ausfindig gemacht, welcher bislang mit dem Institut RABE nichts zu tun hatte. Nur zur Vervollständigung der Transportlisten wurde er einfach mit verschleppt. Da er rein zufällig Mathematiklehrer war, konnte er während seiner Jahre in der Sowjetunion „einigermaßen fachgerecht eingesetzt werden“, so Magnus.

Schließlich brachte man die Deutschen zum Bahnhof nach Kleinbodungen. Dort war bereits das gesamte Areal abgesperrt und durch Militärposten gesichert. Der lange bereitgestellte Eisenbahnzug bot hinreichend Platz für die Personen mitsamt ihrer Habe. Allerdings setzte sich der Zug erst einen Tag später - am 23. Oktober 1946, gegen 17:00 Uhr in Richtung Osten in Bewegung. Um Fluchtgedanken im Keim zu ersticken, wurde der Zug von einer bewaffneten Wachmannschaft begleitet.

In den Zweigbetrieben der Zentralwerke, wie in Sömmerda (BWS), in Sondershausen, in Lehesten (Oertelsbruch) und in der Nordhäuser „Montania“ (später „IFA“) spielte sich ähnliches ab.

Die Fahrt ging zunächst nach Moskau, wo dann die einzelnen Arbeitsgruppen wieder getrennt und auf verschiedene Orte verteilt wurden. Unterwegs traf man auf mehreren Haltebahnhöfen weitere Eisenbahnzüge mit Leuten, die das gleiche Schicksal ereilt hatte. Man tauschte durch das offene Fenster kurze Informationen und Vermutungen über das bevorstehende Ungewisse aus und erfuhr auf diesem Wege zumindest, dass derartige Verschleppungsaktionen in der gesamten sowjetisch besetzten Zone durchgeführt worden waren.

Startvorbereitungen

Sämtliche Bereiche der deutschen Forschung waren betroffen. Mitarbeiter der Raketenforschung, der Luftfahrtindustrie und der Optik traf es genauso, wie die der chemischen Industrie, des Maschinen- und Fahrzeugbaus, insbesondere natürlich der Waffentechnik und vieler anderer Bereiche. Prominente Beispiele sind unter vielen anderen die Mitarbeiter der Junkers-Werke Dessau, der Carl-Zeiss-Werke Jena und der Heinkel-Werke in Rostock. Gemäß Aussagen von Zeitzeugen stand während dieser Aktion für fünf Tage der gesamte zivile Eisenbahnverkehr in der SBZ still, um alle Kapazitäten für die „Umsiedlung“ zur Verfügung zu haben. Für die meisten Raketenfachleute endete die Reise auf der Insel Gorodomlija im Seeliger See – irgendwo zwischen Moskau und St. Petersburg.

Auch der spätere Wirtschaftsminister der DDR, Erich Apel, gehörte diesen Raketenfachleuten an, da er bereits Mitarbeiter der Heeresversuchsanstalt Peenemünde war. Er nahm sich später demonstrativ das Leben aus Enttäuschung über die sehr negativen Verhandlungsergebnisse zwischen der DDR und der UdSSR.

Aus sowjetischer Sicht erscheint diese Aktion durchaus logisch, da Deutschland zu dieser Zeit in vorderster Reihe unter den Industrienationen stand und in verschiedenen Wirtschaftsbereichen eine exponierte Stellung innehatte. Besonders in den Bereichen der Waffentechnik war man in Deutschland den übrigen Nationen weit voraus. So natürlich auch im Bereich der Raketenforschung, wo man einen Vorsprung von ca. zwanzig Jahren gegenüber allen anderen Industrienationen hatte.

Startvorbereitungen

Dagegen stand die zur damaligen Zeit völlig unterentwickelte und rückständige sowjetische Wirtschaft. Gerade erst aus der Feudalgesellschaft erwacht (die Leibeigenschaft z.B. wurde erst unter Zar Alexander II. gegen Ende des 19. Jahrhunderts abgeschafft), wurde durch die Oktoberrevolution (1917) eine sozialistische Planwirtschaft geschaffen, die weder in der Lage war, Gewinne zu erwirtschaften, noch die notwendigsten Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen. Nahezu auf allen Gebieten existierte ein unglaublich großer Rückstand zu den westlichen Nationen. Mit der Demontage sämtlicher wichtiger Industrieanlagen in der SBZ und dem erzwungenen Wissens- und Technologietransfer in die Sowjetunion hoffte man nun in Moskau, in allen vereinnahmten Bereichen einen Sprung nach vorn zu machen.

Für die verschleppten Deutschen bedeutete das, fünf bis zehn Jahre ihres Lebens in völliger Isolation, weit entfernt von der Heimat und der restlichen Familie, hinter Stacheldraht zu verbringen. Ihre große Hoffnung und historische Chance, an der Eroberung des Weltraums, wenn auch unter dem roten Stern, direkt mitzuarbeiten, wurde ihnen jedoch gnadenlos verwehrt. Die Lorbeeren für die dortigen Entwicklungen ernteten die Sowjets, welche gerade zu Beginn der „Zusammenarbeit“ ausschließlich assistierten und lernten.

Die Erfolge deutscher Mitarbeiter im sowjetischen Raketenprogramm wurden erst in den vergangenen 15 Jahren überhaupt bekannt, da dieses Thema zu den Tabus der Nachkriegsjahre und der späteren DDR gehörte. Die Ergebnisse dieser Arbeiten sind die heutige Raketentechnik und die Raumfahrt. Besonders hervorzuheben ist dabei die Rakete R7 "Semjorka", welche am 4. Oktober 1957 den ersten Sputnik ins All brachte und damit den "Sputnik-Schock" in der gesamten westlichen Hemisphäre, besonders aber in den USA auslöste. Der Bau und der Flug dieser Rakete ist unmittelbar mit deutschem Know-How verbunden und währe ohne dieses zu dieser Zeit undenkbar gewesen. Der direkte Nachfahre in dieser Reihe von Raketen - die SOJUS - wird heute noch verwendet und stellt das zuverlässigste Trägersystem für Nutzlasten in den Weltraum dar.

Gunther Hebestreit